Annäherungen an ein verdrängtes Kapitel

Zum Weg der Ausstellung “Entartete Musik” 1988-1997

Für Peter Girth (1942-1997)

Wiederentdeckung in Düsseldorf

Wie kam es 1988 zur Wiederentdeckung dieser vergessenen Ausstellung? Wie kam es zu dem ungewöhnlichen Projekt, bei dem ein Düsseldorfer Orchesterintendant mit einem Berliner Musikpublizisten zusammenarbeitete? Die Ausstellung handelt von Kulturpolitik und ihren Folgen. Eine kulturpolitische Entscheidung stand auch an ihrem Anfang. Als Konsequenz der Auseinandersetzungen zwischen Herbert von Karajan und dem Berliner Philharmonische Orchester um eine vakante Klarinettenstelle mußte Peter Girth seine Stelle als Intendant des Orchesters aufgeben. Er wechselte in gleicher Funktion zu den Düsseldorfer Symphonikern. Zu den ersten größeren Aufgaben, die ihn in dieser neuen Position erwarteten, gehörte 1987 ein Veranstaltungs- und Ausstellungszyklus mit dem Titel “1937. Europa vor dem 2.Weltkrieg”. An diesem Gemeinschaftsprojekt waren neben den Düsseldorfer Museen, neben der Deutschen Oper am Rhein, dem Düsseldorfer Schauspielhaus, dem Heinrich-Heine-Institut und dem Filminstitut auch die Düsseldorfer Symphoniker beteiligt. Mit Konzerten wollten sie den Rückblick auf die einander so entgegengesetzten Groß-Ausstellungen des Jahres 1937, die grandiose Weltausstellung in Paris und die deprimierende Propagandaschau “Entartete Kunst” in München, musikalisch begleiten. Die Dramaturgie der vier thematisch gebundenen Konzerte hatte Girth mir anvertraut.

Bei den Recherchen tauchte unerwartet die Ausstellung “Entartete Musik” auf, die ein Jahr nach 1937, nämlich im Mai 1938, in Düsseldorf stattgefunden hatte. Ich war überrascht, daß die rheinische Stadt sich so ausführlich Paris und München widmete, während sie ihre eigene Tradition in Vergessenheit geraten ließ. Dabei stellte sich heraus, daß Düsseldorf im Propagandasystem der Nazis als Musikstadt eine zentrale Rolle hatte spielen sollen: die “Reichsmusiktage”, die hier 1938 zum ersten Mal stattfanden und zu der die Ausstellung “Entartete Musik” gehörte, waren vom Propagandaministerium als wichtigste und repräsentativste Musikveranstaltung in NS-Deutschland konzipiert. Als ich dies in einem Aufsatz für den Katalog des Düsseldorfer Gemeinschaftsprojekt in Erinnerung rief, meinte Peter Girth spontan, diesem wichtigen Thema müsse eine eigene Ausstellung gewidmet werden. Erste Pläne dazu entstanden im Februar 1987. Als Girth drei Monate später die Vorschau auf die Konzert-Saison 1987/88 veröffentlichte, wies er kühn bereits auf die Eröffnung der Ausstellung “Entartete Musik” hin. Sogar ein Termin war dort genannt: der 16. Januar 1988.

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Wer aber sollte dies finanzieren? Im Etat eines Orchesters ist dergleichen nicht vorgesehen, ebenso wenig die Herstellung eines aufwendigen Katalogbuches. Daß dennoch beides zustande kam, ist nur der Mithilfe privater Sponsoren zu verdanken. Da diese vor allem in der Schweiz beheimatet waren, stand bereits frühzeitig fest, daß die Ausstellung nach Düsseldorf auch in Zürich gezeigt werden sollte.

Die Rekonstruktion erwies sich als schwierig, hatte es doch 1938 keinen Katalog gegeben. Es existiert allerdings die als Broschüre gedruckte Rede, die Hans-Severus Ziegler, der Initiator der Ausstellung, bei ihrer Eröffnung am 24. Mai 1938 im Düsseldorfer Kunstpalast gehalten hatte. Auf der Titelseite der Broschüre prangte eine infame Zeichnung, die einen schwarzen Jazzmusiker mit Saxophon zeigte. Was an dieser Karikatur provozierte, war nicht allein das bewußt vergröberte Gesicht, das im Kontrast stand zur Kleidung, zu Frack und Zylinder. Mehr noch erstaunte der große Davidstern, den dieser Musiker statt einer Nelke im Knopfloch trug. Für die Nazis schien diese fiktive Figur Inbegriff der Entartung zu sein: ein jüdischer Neger, der in europäischer Festkleidung Jazz spielt, der – so sollte die Assoziationsreihe weitergehen – die Primitivität des Urwalds mit der abendländischen Kultur unverschämt vermischt und verquickt. Kenner erinnerte die Karikatur an ein ähnliches Bild auf den Noten zu “Jonny spielt auf”. Gegen die Titelfigur von Ernst Kreneks Erfolgsoper hatten NSDAP-Mitglieder schon vor 1933 protestiert. 1930 war im Lande Thüringen, das damals einen NSDAP-Innenminister hatte, ein Erlaß “Wider die Negerkultur” veröffentlicht worden. Formuliert hatte ihn eben jener Hans-Severus Ziegler, der später als Staatsrat und Generalintendant in Weimar mit der Ausstellung “Entartete Musik” an seine frühere Aktion anknüpfte.

Neben der gedruckten Rede Zieglers einschließlich der darin enthaltenen Abbildungen erwiesen sich auch zeitgenössische Zeitungsartikel als Quellen für die Rekonstruktion. Ein Bericht von Wolfgang Steinecke, dem späteren Leiter der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, listete das in Düsseldorf Gezeigte so penibel auf, daß er den fehlenden Katalog ersetzte. Einige wenige Photos gaben Aufschluß über die damalige Form der Präsentation, zu denen auch Tonkabinen mit Musikbeispielen gehörten. Da insgesamt aber die Quellensituation mager war, entschlossen wir uns, den historischen Kontext der Ausstellung, nämlich die 1. Reichsmusiktage, ebenfalls zu berücksichtigen. Aus Düsseldorfer Archiven erhielten wir dazu wertvolles Photomaterial, ein Originalprogrammheft und die Speisekarte eines Empfangs, den die Stadt Düsseldorf nach einer kulturpolitischen Kundgebung mit Richard Strauss und Joseph Goebbels in den Rheinterrassen gegeben hatte. Diese Speisekarte enthält die jeweils mit dem Doktortitel versehenen Autogramme des Komponisten, des Propagandaministers wie des Oberbürgermeisters. Da über die Ausstellung von 1938 selbst nur relativ wenig Material zur Verfügung stand, ergab sich wie von selbst die stärkere Einbeziehung des Umfeldes. Die kommentierte Rekonstruktion entwickelte sich zum knappen Überblick über die NS-Musikpolitik einschließlich ihrer ideologischen Voraussetzungen und historischen Konsequenzen.

Blick in die Ausstellung „Entartete Musik“, Reichsmusiktage Düsseldorf 1938

“Die Düsseldorfer Ausstellung von 1988 ist viel mehr geworden als eine ‘kommentierte Rekonstruktion’”, schrieb der eigens aus Ost-Berlin angereiste Eberhardt Klemm in der Zeitschrift “Musik und Gesellschaft”; “sie ist eine übersichtlich, klug und sachlich zusammengestellte Gesamtschau alles dessen, das zum Faschismus auf dem Gebiet der Musik geführt hat, und eine Gesamtschau seines wirkenden und nachwirkenden Ungeistes.”

Peter Girth hatte einer ersten Konzeption den Untertitel “Über die Schwierigkeiten im Umgang mit neuer Musik und Kunst” beigegeben. Dieser Untertitel wurde fallengelassen, nicht aber der bewußte Gegenwartsbezug. Die Ausstellung mündet deshalb ein in Antworten zeitgenössischer Komponisten auf die Frage “Was verbinden Sie mit dem Begriff ‘Entartete Musik’, woran erinnert er Sie und assoziieren Sie mit ihm gegebenenfalls Aktuelles?” Schriftliche Stellungnahmen kamen von Hans Werner Henze, Herbert Brün, Klaus Huber, Manfred Trojahn, Jürg Wyttenbach, Wolfgang Hufschmidt, Friedrich Goldmann, Frank Michael Beyer, Aribert Reimann, Günter Bialas, Jürg Baur, Günther Becker, Dieter Schnebel, Mauricio Kagel, Hans Jürgen von Bose, Pierre Boulez und Wolfgang Rihm. Mauricio Kagel hatte ein Originalexemplar des berüchtigten “Lexikon der Juden in der Musik” zur Verfügung gestellt, in das er – ähnlich wie einst Béla Bartók in seinem berühmten Protestbrief – seinen eigenen Namen handschriftlich hinzufügte. Ähnlich eindrucksvoll erscheint weiterhin die Stellungnahme von Wolfgang Rihm, derzufolge die Denunziation heute subtiler laufe. “Der Begriff ‘Entartung’ wird heute nicht etwa deswegen gemieden, weil wir so demokratisch, liberal, offensinnig, geschichtsbewußt etc. geworden wären, sondern weil er nicht mehr angewandt werden muß. In den Köpfen und Herzen (so dort etwas Platz hat) der meisten Menschen gibt es einen Konsens darüber, was ‘entartet’ ist. Es wird immer das sein, was eine andere Freiheit meint als die, die man die eigene nennt.”

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Obwohl Wolfgang Rihm seine Antwort erst am 20. Dezember 1987 formuliert und übersandt hatte – auch Dieter Schnebel, Friedrich Goldmann und Aribert Reimann stellten ihre Beiträge in letzter Minute fertig – , obwohl sogar viele Abbildungen und Essays, dazu Dokumente aus dem Pariser Centre de Documentation Juive ebenfalls erst im Dezember eintrafen, konnte rechtzeitig zur Eröffnung am 16.Januar der aufwendig gestaltete Katalog fertiggestellt werden. Dies war nur möglich durch Tag- und Nachtarbeit aller Beteiligten..

Die Resonanz schon der Pressekonferenz, erst recht der Eröffnung überstieg alle Erwartungen. Im Rundbau der Tonhalle, der sich für einen Ausstellungs-Rundgang anbot, stellten sich dem Besucher schon gleich am Eingang Litfaßsäulen entgegen. Die kommentierte Rekonstruktion spiegelt, so Emil Fischer in der Westdeutschen Zeitung (WZ), “in welch totaler Weise auch das Musikleben von den Nationalsozialisten vereinnahmt und gleichgeschaltet wurde. Die Ausstellung vermittelt in Texten, Abbildungen und Tondokumenten ein beklemmendes Bild jener Zeit. Sie ist in zehn Kojen chronologisch und sachlich gegliedert.” In der “Rheinischen Post” meinte Wolfram Goertz: “Der Rückblick, den Dümling und Girth wagen, besticht durch pädagogischen Eros und wissenschaftliche Kompetenz gleichermaßen. Bei den collagehaften Tonbeispielen bedarf es des Kommentars nicht mehr. Da tönt der Brüller Adolf Hitler neben dem Sänger Richard Tauber, neben Hanns Eisler, neben Richard Wagner. Es überläuft einen kalt.”

Unter der Überschrift “Ein brauner Fleck wird weggewischt” stellte der Düsseldorfer Kritiker Alfons Neukirchen die Schau in einen musikgeschichtlichen Kontext: “Wie schuldlos auch immer Düsseldorf an seinem fatalen Glück sein mochte, zur Stadt der NS-Reichsmusiktage und zum Schauplatz der Ausstellung ‘Entartete Musik’ auserwählt worden zu sein – nicht zu früh und nicht zu spät ist dieser häßliche braune Fleck nun abgewaschen worden. Der Konterschlag der rekonstruierten Ausstellung ist nicht nur im Rahmen des Gesamtprojektes ’1937′, sondern auch in der Kulturpolitik der Nachkriegszeit von besonderer Bedeutung. Die Schau selbst und der mit unvorstellbarem Fleiß und polemischer Brillanz von Albrecht Dümling und Peter Girth geschaffene Katalog werden später noch in Frankfurt, Münster, Berlin, Zürich, Bern, Nancy und Wien von einer reinigenden, nicht lediglich reagierenden Tat, von einer souveränen Widerlegung armseligen und spießigen Saubermanns-Pathos zeugen.” Auch in den überregionalen deutschen Zeitungen wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, sich nun endlich mit diesem dunklen Kapitel deutscher Musikgeschichte auseinanderzusetzen. Ulrich Schreiber sprach in der “Frankfurter Rundschau” von einem “Pandämonium deutscher Ungeistesgeschichte von Wagners Antisemitismus über die Ästhetik des George-Kreises bis zu jenem Staatsrat Ziegler, der nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reichs im Ruhrgebiet als Theaterleiter und in Norddeutschland als Gymnasiallehrer sich weiterhin als ein Praeceptor Germaniae in unveränderter Geisteshaltung aufführen konnte… Wer dabei nicht um seinen Verstand fürchtet, hat keinen zu verlieren.”

Obwohl die Ausstellung nur nachmittags geöffnet war, kamen Schulklassen sogar aus anderen Städten angereist. Für solche Zwecke gab es eigene Führungen. Über die Reaktionen der jungen wie auch der älteren Besucher geben die Eintragungen in ein Besucherbuch Auskunft. Da heißt es beispielsweise: “Eine hervorragende Idee, den Zusammenhang von Politik, Ideologie und Musik zu präsentieren. Denn Aufklärung ist gerade in diesem scheinbar so unpolitischen Bereich von großer Notwendigkeit.” Ein älterer Betrachter schreibt: “Bin selbst in der Zeit aufgewachsen – wie vieles haben wir nicht durchschaut. Gut, daß hier zum Nachdenken und Wachwerden angeregt wird. Aber zeigen sich nicht heute ebensolche Bestrebungen, wenn auch in anderer Richtung?” Auch andere Eintragungen sehen Bezüge zur Gegenwart: “Jeder sollte daran mitarbeiten, daß es nie wieder so weit kommt!” Oder: “Alles eine Frage der Macht – auch heute.” Nur eine einzige Eintragung übernahm NS-Argumentationen: “Die heutige Musik ist in vielen Fällen wirklich entartet.” Das blieb nicht unwidersprochen: “Unglaublich! Das zeigt, daß der deutsche Herrenmensch noch immer nicht aus der Geschichte gelernt hat!!!” Und ein Besucher aus Osnabrück fügte hinzu: “Gewisse ‘geistige Strömungen’ jener Zeit sind auch heute noch vorhanden, das sollten wir nicht vergessen.”

Einwände richteten sich gegen die zu geringe Berücksichtigung des Jazz in der Ausstellung und gegen die zu kurzen Öffnungszeiten. “Die äußerst sparsamen Öffnungszeiten vermitteln den Eindruck, daß man nicht wünscht, daß diese Ausstellung von möglichst vielen Menschen gesehen wird. Ebenso die Tatsache, daß um 16.45 schon kein Katalog mehr zu kaufen ist.” Ein Besucherbuch gab es auch bei der nächsten Station in der Musikhochschule Münster. Die schriftlich formulierten Einwände richteten sich hier wiederum gegen ungünstige Öffnungszeiten, mangelnde Publizität und das Fehlen des Katalogs, der bereits vergriffen war.