Von Station zu Station erwies sich die Ausstellung als work in progress, die jeweils Interesse an der eigenen Lokalgeschichte auslöste.
Work in Progress
Von Station zu Station erwies sich die Ausstellung als work in progress, die jeweils Interesse an der eigenen Lokalgeschichte auslöste. Bei den Züricher Juni-Festwochen 1988 wurde sie unter dem Motto “Fluchtpunkt Zürich” im Stadthaus gezeigt. Wichtige Ergänzungen aus der Dokumentationsbibliothek Walter Labhart zeigten hier den schwierigen Weg mancher Komponisten, insbesondere von Wladimir Vogel, ins schweizerische Exil. Werke von Vogel spielten auch eine wesentliche Rolle bei den begleitenden Konzerten. “Eine Ausstellung, die Betroffenheit auslöst” – so überschrieb das „Luzerner Tagblatt“ seinen Bericht, der auch auf das ausgelegte Besucherbuch hinwies: “Zu finden ist da der Eintrag ‘Das habe ich nicht gewußt – Kurt Waldheim’; bevor wir Schweizer aber in Schadenfreude ausbrechen, sei der heutzutage gerne als Schweizer Komponist Wladimir Vogel in Erinnerung gerufen. Daß er während dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz weilen durfte, hatte der gebürtige Russe allein einem glücklichen Umstand zu verdanken: er hielt sich 1939 im Tessin auf. Sein Ersuchen um den Flüchtlingsstatus wurde 1937 aber abschlägig beurteilt. Begründung: Überfremdung…’”
In Berlin, der nächsten Station, wurde die Ausstellung im Rahmen der Festwochen in der Akademie der Künste am Hanseatenweg gezeigt. Dank der Unterstützung durch die Akademie und die Hochschule der Künste konnte hier das dokumentarische Material wesentlich erweitert werden. In insgesamt 50 Vitrinen sah man beispielsweise Unterlagen zur Entlassung von „Nichtariern“ von der Berliner Musikhochschule oder aus der Preußischen Akademie der Künste. Betroffen von diesen Maßnahmen war neben Curt Sachs, Erich von Hornbostel und Franz Schreker auch Arnold Schönberg. Berlin war in diesem Jahr 1988 mit einer Fülle weiterer Veranstaltungen Europäische Kulturhauptstadt. Auf diesen Zusammenhang ging die Rezensentin des Stadtmagazins ZITTY ein, als sie resümierte: “Diese Ausstellung wird mit zu den wichtigsten Ereignissen gehören, die die Kulturhauptstadt, die auch einmal Hauptstadt der Unkultur war, zu bieten hat. Dabei ist Berlin nicht die erste Station, und auch nicht die letzte.” Für die Betreuung von Schulklassen hatte die Akademie eine Didaktikergruppe und ein eigenes Informationsheft zusammengestellt. Entsprechend finden sich im Besucherbuch viele Eintragungen junger Menschen.
Von Berlin wanderte die Ausstellung “Entartete Musik” in die Staatsoper Hamburg, danach im November ins Concertgebouw Amsterdam, wo für wiederum andere Aspekte in den Vordergrund rückten. In einer in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut entstandenen Broschüre widmeten sich holländische Autoren dem Musikleben unter der deutschen Okkupation. Auch die problematische Kollaboration des Dirigenten Willem Mengelberg blieb dabei nicht ausgespart. In München, wo Gabriele Meyer Dokumente aus jener Geschichtsperiode der Münchner Philharmoniker ergänzte, als es noch “Orchester der Hauptstadt der Bewegung” hieß, gab es auch widersprüchliche Kommentare. Während die “Abendzeitung” hervorhob, die Ausstellung sensibilisiere “als Dokument des zynisch-menschenverachtenden Jargons nazistischer Überheblichkeit … für den Umgang mit Sprache”, meinten andere Stimmen, das Thema sei zu komplex, um auf wenigen Tafeln dargestellt zu werden. Eine Debatte entzündete sich über die Rolle des in München damals immer noch einflußreichen Werner Egk und darüber, ob der Katalog die Musikwissenschaftler Hans Joachim Moser und Wolfgang Boetticher gerecht behandele. Die “Süddeutsche Zeitung” als das wohl repräsentativste Blatt der bayrischen Landeshauptstadt faßte jedoch zusammen: “Diese Ausstellung (plus Katalog und Kassette) gehörte ins geistige Gepäck eines jeden, der sich heute mit der Musik von damals beschäftigt und der wachsam bleiben will, daß ‘Entartung’ eine Vokabel bleibt, die der Vergangenheit angehört.”
Soweit zum Jahr 1988, dem ersten Jahr der kommentierten Rekonstruktion. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die noch folgenden Jahre mit gleicher Ausführlichkeit einzugehen.
Immerhin führte die Stadt Osnabrück, die bis dahin kleinste Ausstellungsstation, im Januar 1989 nicht weniger als zehn Begleitveranstaltungen zur Ausstellung durch, darunter neben Konzerten auch Vorträge über “Jazz unterm Hakenkreuz” und zur Rolle von Richard Wagners Pamphlet “Das Judentum in der Musik”. Schwerpunkte in Saarbrücken waren die Sonderrolle des Saarlandes, in Bremen die Verfolgung der Arbeiterchöre. Auf besonders starke Resonanz stieß die Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, wo sie auf Grund des starken Interesses ganze drei Monate gezeigt wurde. Zu den insgesamt zwölf Begleitveranstaltungen gehörten Jazz- und Operettenabende sowie eine Nürnberger Klaviernacht, die Werke von im NS-Staat verbotenen Komponisten denen von begünstigten und geduldeten gegenüberstellte. Die Ausstellung selbst wurde durch zusätzliche Materialien zur Rolle Nürnbergs im Nationalsozialismus, insbesondere zur Musik bei den Reichsparteitagen, ergänzt. Überraschend fanden sich auch einige Musikmanuskripte von Darius Milhaud, die 1941 von der deutschen Besatzungsmacht in Südfrankreich beschlagnahmt und im fränkischen Kloster Banz als Hinterlassenschaft der Reichsstelle Rosenberg aufgefunden worden war. Die Ausstellung regte den Finder an, diese bislang unveröffentlichten Funde erstmals öffentlich zu zeigen. Als Resultat konnten die Manuskripte zum 100.Geburtstag des Komponisten der in Paris lebenden Witwe Milhauds zurückgegeben werden.
Als die Ausstellung im April 1990 im Staatstheater Darmstadt eröffnet wurde, konnte Peter Girth (von 1991-1996 dessen Intendant) darauf hinweisen, daß sie auch nach Ost-Berlin und Dresden gehen würde. Verhandlungen darüber hatte es bereits vor dem Fall der Mauer gegeben. In Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen sowie dem Sekretariat für gemeinsame Kulturarbeit in Nordrhein-Westfalen (Wuppertal) kam sie im September 1990 in die Akademie der Künste zu Berlin am Robert Koch-Platz kam. Mit Hilfe der genannten Träger reiste sie danach noch ins Dresdener Rathaus sowie in die Leipziger Oper. In Dresden wurde die Ausstellung durch mehrere Konzerte, durch das Gastspiel der Leipziger Oper mit “Jonny spielt auf” von Ernst Krenek und durch ein Kolloquium “Entartete Musik” im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik ergänzt. Die von Lothar Zagrosek dirigierte Leipziger Opernproduktion löste eine umfangreiche CD-Edition mit dem Titel “Entartete Musik” aus, die bis heute fortgesetzt wird. Auch das Kolloquium “Entartete Musik” hatte Konsequenzen, regte es doch einige der Teilnehmer an, wenig beachtete Aspekte aus der Musikgeschichte der frühen DDR einzubeziehen.